Für mich ist ein Charakter nicht flach, wenn er (ernsthafte) Probleme hat, die er bewältigen muss, wenn er sich über all die Jahre entwickelt, wenn seine Herkunft (Geschichte) mit einfließt und überhaupt bekannt ist. Wenn er auch mal Charakterschwächen hat oder seinen Platz im Leben erst findet. Wenn Erlebtes den Charakter langfristig beeinflusst einfach. Wenn er eine eigenständige Person mit eigenen Entscheidungen ist und nicht nur Teil eines Teams oder Partner einer anderen Figur. Wenn er menschlich, nahbar ist und ich mich mit ihm identifizieren kann, selbst wenn kein einziger seiner Lebensumstände mit meinen übereinstimmt.
Ok, also haben wir
- Probleme bewältigen,
- Charakterschwächen,
- Geschichte,
- Entwicklung (/langfristige Änderung),
- eigenständig/ nicht nur Plot-Device,
- Identifikationspotential.
Das klingt nach ein paar sinnvollen Punkten. Was ich bei der Entwicklung noch wichtig finde ist Kontinuität. Das heißt, ein Charakter, der diese "Entwicklung" nahezu jede Woche durchmacht (auch etwas, was in serialisierten Serien heute gerne passiert, ist halt eher Soap-Opera), hat für mich keine Tiefe, sondern ist nur beliebig. Eine kontinuierliche Entwicklung finde ich hingegen interessant, weil bei dieser wirklich etwas dahinter steht, sie ist organisch und realistisch. Entsprechend mag ich es bei
TNG, dass die Entwicklung der Charaktere Jahre dauert, so sehr, dass man sie von Folge zu Folge gar nicht bemerkt, sondern mitunter erst wenn man sich Folgen aus verschiedenen Staffel anschaut merkt, dass sich da was geändert hat.
Dann wollen wir das mal in Hinblick auf die Leute betrachten, die Du genannt hast (wobei ich "Probleme bewältigen" mal außen vor lasse, weil das das "täglich Brot" auf der Enterprise ist und bei allen sehr offensichtlich zutrifft; sowohl bei persönlichen als auch bei professionellen Problemen):
Und bitte, LaForge, Riker, O'Brian, Crusher, Guinan (sorry), Pulaski, Troy... Da passiert gar nichts.
La Forge: startet als ein schüchterner Junior-Offizier, gewinnt Selbstbewusstsein erst professionell, was mit dem Chefingenieurs-Posten belohnt wird, später (über die Jahre) auch im Umgang mit dem anderen Geschlecht; man vergleiche da z. B. sein Verhalten gegenüber Leah Brahms oder Christy Henshaw mit dem gegenüber Aquiel. Somit sind Charakterschwächen und langfristige Charaketerentwicklung vorhanden - insbesondere finde ich es hier wichtig (und realistisch), dass diese Änderungen Jahre benötigt haben. Seine Geschichte zeigt, dass er als Kind häufigen Standortwechseln unterzogen war, was ganz passend zu seinen (anfänglichen) Problemen passt, soziale Bindungen einzugehen sowie seinen Verlassensängsten. Seine Freundschaft zu Data erscheint hierbei nicht zufällig, er hat sich mit Data den zuverlässigsten/beständigsten Freund genommen.
Riker: startet als ehrgeiziger Karrierist und entwickelt über die Jahre Distinguiertheit und eine gewisse Lockerheit sowie das Bewusstsein, dass es mehr gibt als nur einen höheren Rang anzustreben. Entsprechend sind die Dialoge dazu im Borg-Zweiteiler so treffend - weil man diese Entwicklung vorher gesehen hat. Diese Bequemlichkeit, die er dabei über die Jahre entwickelt habt, führen dann bei der Einführung des neuen Captains Jellico zu Spannungen. Ich denke, dass der Riker aus der ersten Staffel keine großen Probleme mit Jellico gehabt hätte; dass der gewachsene Riker der späteren Staffeln - der mittlerweile gelernt hat, dass nicht nur die Sternenflotten-Karriere (bzw. das Vorankommen in ihr) wichtig ist, sondern auch das Wohlbefinden der Crew - dann durch seine Charakterentwicklung hier eingreifen musste. Von seiner Geschichte beeinflussen sein Handeln hauptsächlich seine Beziehung mit Troi sowie sein zerrüttetes Verhältnis zu seinem Vater, was sicherlich einer der Gründe ist, warum Riker gerade anfangs eher ein Macher ist, der selbst handelt, weil er von seinem Vater "gelernt" hat, nicht darauf zu vertrauen, dass andere etwas für ihn tun.
O'Brien: ist in
TNG nur ein Nebencharakter. Interessanterweise hat er später dennoch die ein oder andere Charakterfolge bekommen, aber die Charakterentwicklung von O'Brien ist wohl eher ein Thema für
DS9, da war er schließlich Hauptcharakter.
Crusher: War Anfangs - abgesehen von ihrer Arbeit - darüber definiert, Wesleys Mutter sowie eine Freundin von Picard zu sein. Mit Wesleys Ausstieg hat ihre Muttertätigkeit logischerwiese aufgehört und sie wurde oft die Stimme des diplomatischen Mitgefühls in Besprechungen, was natürlich nah an ihrem Beruf liegt. Ich hatte dabei aber immer das Gefühl, dass Crusher Ärztin ist, weil ihr die Menschen wichtig sind - und nicht (wie bei einer Plot-Device) andersherum. Tatsächlich durchäuft sie aber nicht viel Veränderung, da sie bereits recht früh einen abgerundeten Charakter hat. Das könnte vielleicht damit zusammenhängen, dass sie auch eine der wenigen Figuren ist, von denen wir wissen, dass sie eine Erziehungsberechtigte hatte, bei der sie sich stets wohl und geborgen geühlt hat und sie immer unterstützt hat bei ihren Aktivitäten. Sowas hilft im eigenen Leben wohl ungemein, alles auf die Reihe zu bekommen, indem man die Geschichten, die man erlebt dann gelassener und konfliktärmer bewältigen kann - was das Erzählpotential der Geschichten dann aber möglicherweise für Teile des Publikums weniger relevant macht. Andererseits ist so ein Ruhepol in einem Ensemble-Cast vielleicht gar nicht so schlecht.
Guinan: durchläuft in
TNG (nahezu?) keine Charakterentwicklung und das ist auch gut so. Sie ist Jahrhunderte alt, sie hat gesehen, wie ihre Heimat von den Borg zerstört wurde, wie ihre Freunde und Familie starben, sie hat auf unzähligen Welten gelebt, sie hat gesehen und miterlebt, was kaum einer der anderen sich überhaupt vorstellen kann. Ihr Charakter ist entsprechend gefestigt und keine große Veränderung mehr zu erwarten. Wichtig ist dabei aber, dass uns zu ihr - obwohl sie nur einen Nebencharakter ist - genug Geschichte geliefert wird, dass man recht genau nachvollziehen kann, wie sie so geworden ist wie sie ist - wieso sie auf die Borg oder Q so reagiert, wie sie reagiert, wo sie ihre Weisheit her hat usw.
Pulaski: war nur für eine Staffel dabei; meinem Dafürhalten nach (zumindest in einem Ensemble-Cast) nicht genug Zeit für eine realistische und glaubwürdige Charakterentwicklung. Dennoch hat man hier Grundsteine gelegt und damit begonnen: Sie hat anfangs ein großes Problem, Data zu respektieren, das bessert sich mit der Zeit. Ihr werden einige bemerkenswerte Dinge zugeschrieben wie das Interesse an klingonischer Kultur sowie eine gewisse Schwärmerei für Picard. Wer weiß, was daraus noch geworden wäre, aber zugegebenermaßen war ich immer froh, dass Crusher wieder zurückgekommen ist - auch wenn Pulaski tatsächlich gar nicht schlecht war.
Troi: wirkt anfangs eher wie eine doppelte Plot-Device aka "state the obvious" und "Riker's love interest"; später wird ihr Charakter interessanter, wenn sie z. B. Picard im Ready Room berät, selbst Karriereambitionen an den Tag legt oder auch als Patin von Alexander. Wenn man von einer Charakterentwicklung sprechen will, hat man hier vielleicht: von "ohne Charaketer" zu "immerhin hat sie einen Charakter". Mit Troi hätte man sicher mehr anfangen können - die Beziehung zu Worf war da aber nicht hilfreich.
Also ich bin ganz zufrieden mit den Charakteren in
TNG und das obwohl
TNG noch viel besser darin war, jede Woche eine gute Geschichte zu erzählen. Denn man darf nicht vergessen, dass Geschichten auch nicht nur Charakterentwicklungen sind. Es kommt dabei halt auch auf den Typus Geschichte an, z. B. gibt es bei
Game of Thrones (insbesondere in den guten Staffeln) so gut wie gar keine Charakterentwicklung bei mehr als 95 % der "wichtigen" Charaketere, weil
GoT eben eine soziale und keine psychologische Geschichte ist.
Und
TNG erzählte hervorragende philosophische Geschichten sowie ScIFi sowie Parabeln usw. und fand trotzdem zu einem angemessenen Grad Zeit für realistische Charakterentwicklung.
Live long and prosper,
Vulcan