Der Spiegel;
Nummer 19 , 06.05.2002 , Seite 118
Das Spiel seines Lebens
von Brinkbäumer, Klaus; Cziesche, Dominik; Hoppe, Ralf; Kurz, Felix; Meyer,
Cordula; Repke, Irina; Röbel, Sven; Smoltczyk, Alexander; Wassermann,
Andreas; Winter, Steffen
Die Lehrer, die mit ihm nicht mehr klarkamen, schickten ihn fort. Die
Eltern, die nichts von ihm wussten, gaben auf. Robert Steinhäuser, der
Amokläufer von Erfurt, beschloss, mit einer Lüge zu leben. Kurz vor seiner
Enttarnung tötete er nach dem Vorbild seiner Videos 16 Menschen - und
anschließend sich selbst.
Der Tag der Rache begann um halb acht. Die Mutter ging durch den Flur nach
rechts hinten, ins Kinderzimmer ihres Sohnes, und weckte ihn, denn sie
wusste, "dass es dauert, bis Robert das zweite Bein aus dem Bett hat".
"Lasst mich bis neun schlafen, ich muss heute später los", sagte Robert. Um
neun Uhr schlurfte er endlich ins Bad, und nach dem Duschen ließ er wie
immer seine Zahnbürste und das Handtuch herumliegen. Die Mutter stand in
ihrer Küche und kochte Kaffee und schmierte Knackwurst- und Salami-Brötchen.
Die Englisch-Prüfung sei heute dran, sagte Robert, als er in die Küche kam;
das waren sehr viele Worte für einen wie ihn. Englisch, das wussten die
Eltern oder das glaubten sie zu wissen, war ein Problemfach, und deshalb
nahm der Vater seinen Jungen in den Arm; der aber sträubte sich, wie immer
bei seinem Vater, denn Berührungen gestattete er nur seiner Mutter und
seiner Katze Susi. Dann suchte Robert seine Jacke, die schwarze, und als er
sie nicht fand und in der Waschmaschine vermutete, brüllte er herum. Der
stille Robert. Hätten die Eltern solche Kleinigkeiten als Zeichen deuten,
hätten sie Verdacht schöpfen können? Oder müssen? Dann verabschiedete der
Vater seinen Sohn ins schriftliche Abitur: "Jetzt geht's um die Wurst.
Streng dich an!" Robert zog die Holztür mit dem Keramikschild "die
Steinhäusers" hinter sich zu, es war 9.45 Uhr am 26. April 2002, und den
Eltern fiel auf, dass ihr Sohn nichts dabei hatte, keinen Rucksack, keine
Tasche. Hätten sie nicht spätestens jetzt, endlich, etwas ahnen können?
Müssen? Wäre der Amoklauf von Erfurt an diesem Morgen des 26. April, um
viertel vor zehn, noch aufzuhalten gewesen? Wäre zu diesem Zeitpunkt noch zu
verhindern gewesen, dass dieser vorvergangene Freitag zu einem jener Tage
wird, an denen ein ganzes Land für ein paar Minuten oder Stunden gleichsam
schockgefriert? So jedenfalls wurde er zum Tag eines Verbrechens, das es so
noch nicht gegeben hatte, nicht mal in Amerika und natürlich nicht in
Deutschland, nicht in einer Schule und nicht durch einen so jungen Täter.
Dieser Rachefeldzug mit 17 Todesopfern war eine unfassbare Tat, verübt von
einem schwer fassbaren Massenmörder - von einem jungen Mann, an dem die
Lehrer verzweifelten und die Eltern sowieso. "Wir haben nichts gesehen",
flüstert die Mutter, Christel Steinhäuser, 52, zart und zierlich, Bubikopf,
die Daumenknöchel in die verheulten Augen gedrückt. Denn es gab keine
Englisch-Prüfung, und es gab kein Abitur für Robert Steinhäuser. Seit fast
einem halben Jahr war er schon nicht mehr zur Schule gegangen. "Wir haben
versagt, natürlich haben wir versagt", murmelt der Vater, Günter
Steinhäuser, 52, grau melierter Vollbart, Lederweste, mit den Fingern an der
Lesebrille zupfend. Nach zehn Minuten war Robert an diesem Freitag wieder
da. "Ich habe meine Stifte vergessen", sagte er, marschierte in sein Zimmer
und verschwand aufs Neue. Es vergingen zwei Stunden. Für das Ehepaar
Steinhäuser, seit 25 Jahren verheiratet, waren es zwei besondere Stunden.
Der Vater, der unter Multipler Sklerose und Diabetes leidet, war
krankgeschrieben, die Mutter hatte frei, und darum kauften sie bei Real
zusammen für das Wochenende ein. Die beiden sind gern zusammen, immer noch;
all die Meldungen aus den Tagen nach dem Amoklauf, die Berichte über eine
zerrüttete und getrennte Familie sind, jedenfalls, so weit man das von außen
beurteilen kann, ziemlicher Unsinn. Die Ursache für die Katastrophe liegt
tiefer. Viel tiefer. Die Ursache liegt im Schweigen, darin, dass niemand
wirklich hinsah, die Lehrer nicht, die nur einmal in der Ottostraße hätten
anrufen müssen, die Eltern nicht, die dort ihren Sohn nicht mehr erreichten
und irgendwann aufgaben. Und die Ursache liegt in einer Lüge, die nicht mehr
aufrechtzuhalten war. Die Eltern saßen wieder im Auto auf dem Rückweg vom
Real, als sie die Nachricht von einer Schießerei im Erfurter
Gutenberg-Gymnasium im Radio hörten. Sie wählten Roberts Mobiltelefonnummer,
aber er nahm nicht ab. Sie riefen zu Hause an. Die Großmutter, die eine
Etage tiefer wohnt, ging ans Telefon und erzählte, sie habe um halb elf Uhr
gesehen, wie Robert das Haus verlassen habe, mit einem Rucksack. Und mit
einer Zigarette in der Hand. Robert, der Nichtraucher. Es war ein Verdacht.
Es war dieses furchtbare Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Aber was?
Das Gymnasium, Roberts Gymnasium, ist nur einen Kilometer von der Ottostraße
entfernt. Sein Schulweg führte nach links in die Rudolfstraße, vorbei am
Ärztehaus, dem Straßenbauamt und dem Landesrechenzentrum, den Hügel hinauf,
den Hügel hinab, vorbei am Bundesarbeitsgericht und der Konditorei Enders,
die im Schaukasten ihre Torte des Monats April, "Joghurt light", preist. Und
nun rasten Polizeiwagen in Richtung Schule, und Schüler flüchteten in die
andere Richtung. Aber Robert war nicht unter den Flüchtenden, Robert kam
auch dann nicht, als alle Schüler längst draußen waren. Die Eltern
fürchteten, dass ihm etwas passiert war, und sie riefen Peter an, Roberts
großen Bruder, und der raste in die Ottostraße. Peter ging in Roberts
Zimmer. Er stieß mit dem Fuß an die schwere Reisetasche, und da, sagt Peter
Steinhäuser, 25, "habe ich schon gewusst, dass das nichts Gutes wird, was
ich jetzt mache". In der Tasche lagen Hunderte Schuss Munition. "In meinem
ganzen Leben habe ich noch nicht so gezittert", sagt Peter Steinhäuser. Auf
Roberts Schreibtisch lagen die Quittungen für den Waffenkauf, und alles hier
war aufgeräumt, zum ersten Mal; normalerweise lagen rund um den Computer die
Pizzareste und die Disketten herum, und normalerweise war das Bett mit der
Coca-Cola-Decke zerwühlt. Heute nicht. Er sollte die Quittungen finden,
glaubt Peter. Die Quittungen für die Waffen waren Roberts Abschiedsbrief.
"Durch einen ehemaligen Schüler des Gymnasiums wurden acht Lehrerinnen, vier
Lehrer, eine Sekretärin, eine Schülerin, ein Schüler und ein Polizeibeamter
getötet. Das Verbrechen hat weltweite Medienbeachtung gefunden", heißt es in
einem Bericht des Innenministeriums des Freistaats Thüringen. Es war 13 Uhr
an diesem 26. April 2002, als Peter Steinhäuser wusste, dass der
Massenmörder sein Bruder war. "Und dann gehen Sie mal nach nebenan und
erzählen Ihren Eltern, was Sie gerade gefunden haben", sagt Peter
Steinhäuser. DIE TRAUERNDE STADT Erfurt wirkt, als wäre es von einem
Modelleisenbahner entworfen worden. Ruhig bis zur Lautlosigkeit, mit
Straßenbahnen, die an Patrizierfassaden und Fachwerk entlangkriechen, einem
Renaissancebrunnen samt Obelisken, einer Zitadelle und einem
Oberbürgermeister, der aussieht wie ein fröhlich alt gewordener
Hollywood-Star. OB Manfred O. Ruge hat es geschafft, eine gute Portion der
Aufbaugelder für Thüringen in seine Stadt umzuleiten. Erfurt ist gepflegter
als Berlin, schöner als Hamburg, ungekünstelter als Tübingen, vom Krieg
verschont, vom Sozialismus nicht zur Modellstadt verdammt. Erfurt ist eine
Stadt im menschlichen Maß. Als während der Pressekonferenz am vorvergangenen
Sonntag ein Reporter die Schülerin Michaela Seidel aus der 12. Klasse des
Gutenberg-Gymnasiums fragt, was sie dem Täter gegenüber empfinde, antwortet
die junge Frau: "Soll ich ihn hassen? Oder Mitleid haben? Das wäre beides
eine Genugtuung für ihn. Ich möchte gar nichts für Robert Steinhäuser
empfinden." In der Woche danach fühlt Erfurt sich sehr leer und sehr taub
an. Die Stadt gleicht einem gewaltigen Friedhof mit Blumenbergen, Kerzen,
Fotos und Briefen, die sich überall zu großen Haufen schichten.
Sprachlosigkeit frisst sich durch die Stadt: Je mehr die Ahnung vom Ausmaß
der Tat ins Bewusstsein der Menschen sickert, desto unbegreiflicher wird
das, was sie eigentlich zu begreifen versuchen. Die Schule ist zur
Kaiserzeit gebaut worden. Das Gutenberg- Gymnasium ist eine Burg des Lernens
mit Erkern und Wetterfahne. Mit weit geöffneten Flügeln steht die Schule
etwas oberhalb der Stadt. "Lerne um zu leben", mahnt der rechte Seitenei
ngang, "Lebe um zu lernen", korrigiert der linke. Robert Steinhäuser kam von
hinten, wo die gelben Mülltonnen stehen und die Autos. Die Luft ist feucht,
und von der Kleingartenanlage gegenüber riecht es nach den Blüten der
Apfelbäume. "Nur die Besten sterben jung", steht auf einem Stück Karton im
Blumenmeer, und oben im Fenster hängt noch immer das "HILFE"-Schild, das
Schüler am 26. April gegen die Scheibe geklebt haben. Es gibt Reporter in
Erfurt, die den Erfurtern den Hass auf die Medien, auf alle Medien
beibringen; Kameramänner etwa, die Fotos von Opfern vom Blumenberg klauen.
Es gibt Lehrer und Schüler, die schweigen wollen. Schweigen und weinen. Aber
es gibt andere, denen es hilft, über das zu reden, was war. Dass Lutz Pockel
noch am Leben ist, verdankt er der Tatsache, dass er am Freitag, dem 26.
April, kurz vor elf Uhr, nicht im Klassenraum, sondern in der Aula des
Gutenberg-Gymnasiums war. Es ist Zufall, dass Yvonne-Sofia Fulsche-Baer
starb, die Lehrerin, die im Erziehungsurlaub und nur zur Klausuraufsicht in
der Schule war. Und es ist Zufall, dass Lutz Pockel lebt. Robert Steinhäuser
kam im Mai vergangenen Jahres in Pockels Grundkurs Physik - weil er
zurückgestuft worden war, "freiwillig", wie alle Lehrer betonen, auch wenn
das sehr nach "Kündigung im gegenseitigen Einvernehmen" klingt. Lehrer
Pockel kann sich an keinen Schüler erinnern, zu dem er einen so schlechten
Draht gehabt habe, mit dem so wenig Kommunikation möglich gewesen sei wie
mit Robert Steinhäuser. ROBERTS WELT Als er zwei Jahre alt war, blieb seine
Mutter, Kinderkrankenschwester in der Erfurter Hautklinik, zu Hause, damit
er nicht in die Krippe musste. Der Junge "war ein ganz anhängliches Kind",
sagt Christel Steinhäuser, "er musste beschützt werden, damit er seinem
Bruder nicht ständig unterlegen war". Das Kind konnte nur schlafen, wenn die
Mutter durch die Gitterstäbe hindurch seine Hand hielt. Als er acht Jahre
alt war, baute er in seinem Zimmer Modelle von der "Titanic" oder vom
"Raumschiff Enterprise". Robert verehrte Captain Kirk, und er wollte
Astronaut werden. Anders als sein Bruder Peter ging Robert nicht auf die
Straße, zum Bolzen. Die Eltern ließen sich von Freunden aus dem Westen
Lego-Steine schicken. "Wir wollten doch kreatives Spielzeug", sagt der
Vater. "Ich habe ihm vorgelesen", sagt die Mutter. "Felix der Pinguin" war
Roberts Lieblingsbuch. Der Junge konnte nur schlafen, wenn er zu seinen
Eltern ins Ehebett kriechen durfte. Als er 14 Jahre alt war, bekam Robert
Steinhäuser eine Katze, die schon in seinem Bett schlief, wenn er noch seine
Ballerspiele am Computer machte. Dann kroch er zu Susi. "Die Pubertät",
dachte seine Mutter, als ihr Sohn 16 Jahre alt war und allmählich
verstummte. "Wie war dein Tag?" "Ganz okay." Danke für das Gespräch. Und
jetzt kleben drei graue Siegel-Streifen der Polizei an der verschlossenen
Tür zum Kinderzimmer, in dem ihr Sohn die Morde so gewissenhaft geplant
hatte. Und im Wohnzimmer gegenüber kauern Günter und Christel Steinhäuser
eng nebeneinander auf dem grünen Ledersofa, zusammengefallen, so als ob ihre
Muskeln nur noch zum Zittern taugten. "Wir hätten es doch merken müssen",
stammelt der Vater und verschluckt die Vokale: "Warum haben wir's nicht
gemerkt?" Christel und Günter Steinhäuser gingen, so erzählen sie, 1989 zu
den Montagsdemonstrationen gegen die Staats- und Parteiführung der DDR. Sie
machten ihre Wahlzettel ungültig. Sie übten zaghaften Protest. Sie kennen
auch dieses Unbehagen, das viele Menschen im Osten spürten, "diese ständige
Flexibilität, dieses Verlieren aller Wurzeln", wie der Vater klagt, aber sie
fassten Tritt im vereinigten Deutschland. Er arbeitet als Elektr oingenieur
bei Siemens, sie im Schichtdienst in der Hautklinik. Sie bezogen eine
Vierzimmerwohnung in dieser Gründerzeitvilla in der Ottostraße, unterm Dach,
hundert Quadratmeter. Und Günter Steinhäuser war ein ziemlich eifriger
Elternvertreter. Er fuhr mit auf Klassenfahrten, und wenn Kinder auffällig
waren, ging er zusammen mit dem Klassenlehrer zu den Eltern. "Ich habe
versucht, mit Eltern zu beraten, wie man etwas wieder geradebiegen kann",
sagt er und weiß, wie grotesk das heute klingt. Ein Sorgenkind wie seinen
Sohn hat es in Erfurt noch nie gegeben. Nach der Grundschule schickten die
Steinhäusers ihren Robert auf die Hauptund Realschule, die in Thüringen
Regelschule heißt - doch nach einem Jahr meldeten sie ihn wieder ab. Sie
waren geschockt, denn die Lehrerinnen hatten von Messern auf dem Schulhof
erzählt und von Prügeleien und Drogen. "Wir dachten, nichts wie weg hier",
sagt der Vater. Roberts Zensuren waren in Ordnung; "er ist ein höflicher und
strebsamer Schüler", stand im Zeugnis der fünften Klasse, und darum kam er
aufs Gutenberg-Gymnasium. "Ein grauenhafter Fehler", sagt die Mutter heute.
Der erste von vielen grauenhaften Fehlern in dieser Geschichte einer
schrecklich normalen Familie. Die Mutter sah, dass Robert schlechte Noten
nach Hause brachte, dass er ernster wurde und verschlossener. "Robert darf
die Freude an der Schule nicht verlieren. Er muss eine richtige
Arbeitstechnik finden", stand im Zeugnis der neunten Klasse. "Vielleicht war
er auf dem Gymnasium all die Jahre überfordert und deswegen
kreuzunglücklich. Wir haben das doch nicht geahnt", sagt die Mutter. Denn
Robert schwieg. Und Robert floh. Gegen die Proteste seiner Eltern legte er
sich einen Gameboy zu, und nachts sah er fern. Als er 14 Jahre alt war,
kaufte er sich von dem Geld, das er zur Jugendweihe bekommen hatte, seinen
ersten Computer, und den rüstete er ständig nach. Am Ende hatte er einen
Pentium-II- Rechner, dazu Lautsprecher, so genannte Booster, für
authentische Schussgeräusche, dazu Scanner und 17-Zoll- Monitor. Das alles
stand auf einem weißen Metalltisch auf Rollen - Roberts Altar. 20 Euro
Taschengeld gaben ihm seine Eltern im Monat, 40 Euro die Großeltern.
Manchmal putzte Robert zu Hause die Fenster, das brachte 25 Euro. Er gab
nicht viel aus, nicht für Klamotten, nicht für Mädchen. Der Vater hatte eine
Kontovollmacht, "Misstrauen gab es da nicht", sagt er. Als Robert anfing,
größere Summen abzuheben, immer wieder mal 250 Euro, sagte er, dass er das
Geld auf ein Sparbuch überwiesen habe. Wegen der Zinsen. "Heute wissen wir,
wofür das Geld war", sagt der Vater. Am Ende, am 26. April, hatte Robert
noch 7 Euro auf seinem Sparbuch und 100 Euro auf dem Girokonto. Wenn die
Eltern damals die Tür zum Kinderzimmer öffneten, Eiche-Furnier mit
Messinggriff, betraten sie eine bizarre Welt. Alles lief gleichzeitig,
Computer, Fernseher, Videorecorder, und Robert hockte da und starrte auf den
Bildschirm und hörte nur das, was aus seinen Kopfhörern kam. Es war eine
Scheinwelt, natürlich, es war eine brutale Welt, auch das, aber für Robert
war es die bessere Welt. Die Musiksammlung des Robert Steinhäuser enthielt
CDs von Gute-Laune-Gruppen wie Ace of Base, und sie enthielt Werke der
Metal- und Teufelsanbeter-Fraktion, neben zwei CDs der US-Band Slipknot zum
Beispiel Platten von System of a Down oder Entombed. Die Gruppe verehrt
Luzifer als "Chief Rebel Angel", und zu ihren erfolgreichsten Songs zählen
Titel wie "Living Dead" oder "Seeing Red". Und während er sich dieses Zeug
anhörte, saß er an so ziemlich jeder Waffe, mit der sich Menschen töten
lassen. Robert übte mit Pistolen, halb- und vollautomatischen, mit Pumpguns,
Granatwerfern, Kanonen und Präzisionsgewehren. In seiner Dachkammer
schlitzte er Bäuche mit dem Kampfmesser auf, und er durchbohrte seine Gegner
mit Pfeilen; er äscherte sie mit Molotow-Cocktails und Flammenwerfern ein,
atomisierte sie mit Panzerkanonen, und das alles tat er, ohne selbst Angst
spüren zu müssen. Als Polizisten nach dem Amoklauf Roberts Zimmer filzen,
finden sie Strategiespiele wie "Homeworld", Schießorgien wie "Hidden &
Dangerous" - und mindestens sechs indizierte Spiele, die für den
Versandhandel gesperrt sind und Minderjährigen nicht in die Hände fallen
sollen. Unter Steinhäusers Baller-Titeln ist das Brutalste und
Bestialischste, also das Begehrteste, was die Erfinder von
Einzelkämpfer-Spielen je auf den Markt geworfen haben. Zum Beispiel
"Half-Life", ein so genannter Ego-Shooter, mit dem Robert über die Mündung
seiner Waffe auf seine Opfer sah. Wie man im Laufschritt mordet, konnte er
auch in seinen indizierten Spielen "Return to Castle Wolfenstein",
"Commandos - Behind Enemy Lines", "Alien versus Predator" und "Soldier of
Fortune" trainieren, nirgendwo aber so perfekt wie im Cyber-Epos "Medal of
Honor". Wenn dort Lieutenant Mike Powell am D-Day am Omaha Beach landet, ist
nur der finale Treffer ein guter Schuss; je mehr Kopftreffer, desto besser.
Dass eine Statistik am Ende aufführt, wo die Projektile in die Körper
eingeschlagen sind, hält die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende
Schriften für "äußerst problematisch", denn dadurch werde das "gezielte und
kaltblütige Töten eingeübt". Es war so etwas wie ein Entwurf für den 26.
April. Das perfekte Trainingslager. Von Zimmer zu Zimmer, von Flur zu Flur
musste der Killer Robert Steinhäuser in seiner virtuellen Computerwelt
vordringen, immer eine Stufe höher, und er musste Türen öffnen und Treppen
hinaufsteigen und wieder hinab, und deshalb wirken diese Spiele im
Nachhinein wie eine Blaupause für den realen Massenmord. Es wirkt, als hätte
Robert Steinhäuser, maskiert und verkleidet wie ein "Ninja"-Kämpfer, an
jenem Morgen in den Gängen und Treppenhäusern des Gutenberg-Gymnasiums das
letzte und das größte Spiel seines Lebens gespielt, so lange, bis ihn der
Lehrer Rainer Heise beim Namen nannte und auf die Erde zurückholte. DIE
WÜTENDE STADT Ihr Verhältnis zum Tod, sagt die Notärztin Gabi Wirsing, 54,
sei von Berufs wegen eher "professionell". Seit 1986 macht die blonde
Erfurterin den Job, und sie hatte geglaubt, schon alles gesehen zu haben,
was ein Mensch ertragen kann. Der Notruf mit der Einsatznummer 20688 aber
sprengte den Rahmen. Den Rahmen ihrer Erfahrungen, den Rahmen des
Vorstellbaren, den Rahmen dessen, was Menschen für möglich halten. Zwischen
zwei Zügen aus der Menthol-Zigarette sucht die Ärztin nach Worten. "Wie eine
menschliche Naturkatastrophe war das", sagt sie dann. Als ihr
Mercedes-Notarztwagen NEF 1/82/2 um 11.13 Uhr das Gutenberg-Gymnasium
erreichte, wurden Wirsing und ihr Rettungsassistent abgefangen und mit einem
Polizeibus zum linken Nebeneingang der Schule gefahren. "Wenn geschossen
wird", rief ein Polizist noch, "nichts wie raus und Köpfe runter." Noch
bevor das Sondereinsatz-Kommando (SEK) am Tatort war, bugsierten ein paar
Erfurter Streifenbeamte mit grünen Uniformen und Maschinenpistolen die
Notärztin ins Schulgebäude. Auf dem linken Treppenabsatz lag der Polizist
Andreas Gorski in "Halbseiten-Bauchlage" in seinem Blut. Die Notärztin
prüfte Puls und Augenreflexe - Gorski war bereits tot. Robert Steinhäuser
hatte hinterrücks auf den Beamten gefeuert, als der dabei war, seine
schusssichere Weste anzulegen. Wirsing nahm Gorskis Dienstwaffe aus dem
Holster und gab sie einem Polizisten. "Damit der Amokläufer sie nicht
kriegt, wenn ihm die Munition ausgeht", sagte sie. Unter Deckung rannte das
Rettungsteam ins Schulsekretariat. Überall sah es Patronenhülsen auf dem
Steinfußboden. Vor dem Empfangstresen im Büro lag die stellvertretende
Schulleiterin Rosemarie Hajna tot auf dem Rücken. Sekretärin Anneliese
Schwertner saß noch am Schreibtisch, den Kopf auf der Tischplatte, wie
schlafend. Und überall war Blut. "Die Situation war sehr, sehr unwirklich",
sagt Wirsing und beschreibt, wie plötzlich ein Schuss durch die Flure
knallte. "Auf den Boden", befahl ein Polizist, "und niemandem die Tür
öffnen!" Minuten des Wartens. Die Notärztin gab einen ersten Bericht an die
Leitstelle durch, im Flüsterton, per Handy. Dann, irgendwann, kam ein
Polizist herein und führte sie zu einem Sterbenden auf das Treppenpodest
zwischen erster und zweiter Etage. "Wie heißen Sie?", fragte Wirsing den
Mann. "Wir müssen doch wissen, wen wi r im Krankenhaus wieder gesund
machen." "Hans Lippe", flüsterte der Sterbende und dann nur noch: "Die Luft
geht weg." Die Ärztin und ihr Assistent arbeiteten wie Maschinen. Sie legten
Infusionen, um den Kreislauf zu stabilisieren, intubierten den Patienten und
begannen mit einer Herzmassage. Aber dabei merkten sie, dass Lippes Bauch
voller Blut war. Das Einzige, was Wirsing noch tun konnte, war, den Mann,
den seine Schüler "Lippchen" nannten, ohne Schmerzen sterben zu lassen. Sie
sprach mit ihm und injizierte ihm das Schmerzmittel Phentanyl. Im zweiten
Obergeschoss, im Klassenzimmer 208, lagen die Leichen der Schüler Ronny
Möckel, 15, und Susann Hartung, 14, zwischen umgestürzten Bänken. Der Junge
hatte einen tödlichen Schuss in den Bauch erlitten, das Mädchen mehrere
Schüsse in den Rücken. Vor der Tür war ihre Lehrerin zusammenbrochen; als
sie versucht hatte, dem Mörder den Weg zu versperren, hatte Robert
Steinhäuser offenbar durch den Türspalt in die Klasse gefeuert. Und dann war
da Robert Steinhäuser. Im Vorbereitungsraum Kunst, einem Zimmerchen, das mit
Regalen voll gestopft ist, lag er auf dem Fußboden. Halb auf der Seite,
neben seiner Pumpgun, die er auf den Boden gelegt hatte. Er muss sich die
Pistole in den Mund gesteckt haben, bevor er abdrückte. Sein Kiefer war
zertrümmert. Dann muss ihm die Pistole aus der Hand gefallen sein; sie lag
zwischen seinen Beinen. Menschen wie Gabi Wirsing taten an jenem Morgen, was
sie tun konnten, aber eine Frage bleibt: Hätte irgendjemand mehr tun können?
Die Stimmung unter den Erfurter Streifenpolizisten ist lausig - "wir sind ja
doch nur Kanonenfutter", heißt es. In der Einsatzzentrale, in die man gern
auch "weniger fähige" Kollegen abschiebe, wie ein Beamter erzählt, soll es
am 26. April gleich mehrere Pannen gegeben haben. Obwohl der Hausmeister bei
seinem Notruf von "Schüssen im Schulhaus" gesprochen habe, seien die
Streifenpolizisten, die zur Schule geschickt wurden, nur über "eine Straftat
im Gutenberg-Gymnasium" informiert worden. Gefahr? Bewaffnete Täter? Kein
Wort davon. Wäre es also vermeidbar gewesen, dass auch noch der Beamte
Gorski starb? Andererseits: Kann man verlangen, dass nach einem solchen
Notruf alle Räder ineinander greifen, fehlerlos, ganz so, als hätte
irgendwer mit dem rechnen können, was im Gutenberg-Gymnasium geschah? Es hat
natürlich mit Hilflosigkeit und Verzweiflung zu tun, dass nun viele Menschen
klagen. Was ist wahr und was nicht, wer trägt Mitschuld, und wer ist nur
Opfer? Wenn eine ganze Stadt trauert, gibt es vermutlich zwangsläufig auch
eine Mischung aus Gerüchten und Neid, Misstrauen und Kritik. An den
Beratungstelefonen beschweren sich viele Erfurter darüber, dass die
unvermeidliche Polit-Prominenz die öffentliche Anteilnahme für den Wahlkampf
nutzt. Kultusminister Michael Krapp etwa wollte alle Opferfamilien
aufsuchen, ohne Begleitung, ohne Presse, ohne Blumen, allein und in aller
Stille - doch Ministerpräsident Bernhard Vogel kam ihm zuvor und machte aus
der Aktion eine Betroffenheitsshow. Und auch die Stimmung im Kollegium des
Gutenberg-Gymnasiums ist lausig. Noch immer sind einige Lehrer und Schüler
davon überzeugt, dass es einen zweiten Täter gab, einen, der mit den
Flüchtenden aus dem Gebäude gerannt sein muss, einen also, der nun frei
durch Erfurt laufe. Dieses Gerücht geht darauf zurück, dass um kurz nach
elf, unmittelbar nach Beginn des Amoklaufs, mehrere Sechstklässler in den
Keller zu Schulbibliothekarin Margrit Kampe geflohen waren. Und dort
berichteten diese Kinder, da oben seien zwei vermummte Männer, einer heller,
einer dunkel gekleidet, beide hätten Pistolen in der Hand, und der eine habe
auch noch was auf dem Rücken gehabt - wohl die Pumpgun. Drei der
Sechstklässler setzten sich sofort an den Computer und hielten ihre
Beobachtungen fest, und obwohl die Geschichte vom zweiten Mann offiziell als
erledigt gilt, fragen die Polizisten bei den Freunden Robert Steinhäusers
sehr dezent, was es damit auf sich haben könnte - sie seien immer noch
unsicher. Die Lehrer des Guten berg-Gymnasiums erzählen auch, dass sie
"durch Befragungen untereinander feststellen mussten, wer noch lebt und wer
nicht". Die Verwandten der erschossenen Kollegen mussten von ihnen, den
traumatisierten Überlebenden, unterrichtet werden. "Wir können nicht geben,
weil wir selbst noch nehmen müssen", sagt Physiklehrer Pockel. DER KAMPF MIT
DEM KIND Es ging immer ums Schießen, es ging immer um Gewalt", sagt der
Vater. Er schimpfte, drohte, schrie. Es änderte nichts; der Vater kam an den
Sohn nicht mehr heran. Die Steinhäusers versuchten es mit Gesprächen, dann
mit Zwang: Der Vater baute eine Sperrvorrichtung an das Fernsehgerät; pro
Stunde musste Robert eine Mark einwerfen, sonst ging das Gerät aus. Robert
lernte trotzdem nicht, er machte längst keine Hausaufgaben mehr. "Er saß
immer vor dem Computer. Das war wie eine Sucht", sagt die Mutter. Einmal
riss Christel Steinhäuser vor Verzweiflung alle Kabel aus den Wänden und den
Geräten und versteckte sie. Robert suchte alles wieder zusammen und kaufte
noch neue Programme dazu. "Es gab diese Auseinandersetzung, dass er sich das
einteilt, Fernsehen, Computer, Schule. Das hat Robert nicht beherrscht",
sagt der Vater. Und wenn er von dieser grünen Couch aufsteht, geht er so
schleppend, als könnte er jeden Moment hinfallen. Im Wohnzimmer sind die
alten Fachwerkbalken zu sehen. Die Steinhäusers haben ihr Zuhause mit
Antik-Möbeln dekoriert, mit einer alten Nähmaschine, und auf den Tischen
liegen weiße Spitzendeckchen, und an den Fenstern kräuseln sich weiße
Rüschengardinen. In den Regalen stehen Kristallgläser, eine alte Bibel und
ein paar Kochbücher, und auf dem Beistelltisch liegt der Otto-Katalog. Es
gibt einen Kamin mit Glasverkleidung, es gibt Trockensträuße und
Strohgebinde, aber es gibt keine Spur von Robert: keine Fotos, keine
Scherenschnitte, keine Kinderzeichnungen. Und die Steinhäusers sitzen da und
schweigen minutenlang, und nun ist es so still, dass das schwere Ticken der
Eichenstanduhr unerträglich wird. Die Mutter, die mitten im Satz abbricht,
wenn ihr Mann zu reden beginnt, wuchs auf dem Bauernhof auf, in Nohra bei
Nordhausen, dort, wo ihr Sohn seine schönsten Ferien verbrachte. Robert habe
seine Mutter ganz besonders geliebt, sagt Günter Steinhäuser, der Vater, "er
hatte immer ein gutes Verhältnis zu seiner Mutter". "Was sagst du denn? Wir
wissen doch, dass all das nicht gestimmt hat", sagt sie. Abends, wenn sie im
Bett liegen, ist es am schlimmsten, weil sie dann das Entsetzen anspringt,
diese Hilflosigkeit, weil sie nichts wieder gutmachen können, weil sie nicht
mal um ihren Sohn trauern können, weil ihr Sohn in den Minuten vor seinem
Tod zum Mörder wurde. "Wir haben alles falsch gemacht", sagt die Mutter
wieder und weint. Robert, der Weiche, der sanfte Robert. Der doch nur seine
Gefühle nicht mehr ausdrücken konnte, der es nicht schaffte, erwachsen zu
werden. Und dessen Mutter sich freute, wenn die Kumpels hinter der
Kinderzimmertür mit ihm so albern kicherten. Für sie war er bloß einer
dieser pubertierenden Teenager, der Abstand von den Eltern halten wollte.
Der große Bruder nahm den kleinen mit zum Handballtraining, auf Drängen der
Mutter. "Er sollte sich mal bewegen, mit Kumpels zusammen sein", sagt sie.
Es funktionierte, scheinbar. Im Handballclub SSV Erfurt-Nord stand Robert
bald im Tor. Er war kein guter Spieler, nicht besonders gelenkig und nicht
wirklich mutig, wenn ihm die Kreisläufer entgegensprangen. Aber er nahm die
Jüngeren in Schutz, wenn sie gepiesackt wurden. Ehrgeizig sei er nie
gewesen, sagen die Eltern. Phlegmatisch. Antriebslos. Er habe auf kaum etwas
Lust gehabt, nur auf die verdammten Computerspiele. "Mach was, streng dich
an", sagte der Vater; "du musst doch was lernen", sagte die Mutter. Dass er
möglicherweise depressiv war, dass er nicht nur ein paar Worte, sondern
professionelle Hilfe gebraucht hätte, die Eltern allein nicht leisten
können, sahen sie nicht. Nicht damals. Als Robert 18 Jahre alt wurde,
schenkten sie ihm ein Poster der Tennisschönheit Anna Kurnikowa; er hasste e
s. Und sie schenkten ihm das Geld für die Fahrschule; den Kurs sollte er in
den Sommerferien machen. Robert träumte von einem Mustang, dem Flitzer aus
dem Actionfilm "Nur noch 60 Sekunden", aber er schaffte es nicht, sich den
Erste-Hilfe- Schein rechtzeitig zu besorgen, und als die Fahrschule ihn
deshalb abwies, trat er gegen den Bürgersteig und schimpfte auf die
"Scheißbürokraten". Danach sprach er nie wieder über den Führerschein. So
ähnlich ging es mit dem Urlaub. Bis vor zwei Jahren war er mit seinen Eltern
zusammen gefahren, nach Zypern, in die USA, nach Teneriffa. Als ihm auch das
keinen Spaß mehr machte, suchten die Eltern im Internet nach Jugendreisen.
"Da haben wir gesagt: ,Such dir einen Kumpel und zieht zusammen los.' Das
hat ihn aber auch nicht interessiert", sagt die Mutter. Robert rauchte
nicht, Robert tanzte nicht, Robert hatte keine Freundin. Wer war er? Ein
Monster, ein jämmerlicher Psychopath, der Kassettenhüllen aus dem "Video
Buster" am Juri-Gagarin-Ring klaute, ein terroristischer Schläfer in eigener
Sache? Könnte man denken, einerseits. Andererseits gab es da einen scheuen
Jungen, der den Futternapf seiner Katze Susi füllte, pünktlich auf die
Minute. Und wenn seine Mutter ihn um einen Gefallen bat, war er der
aufmerksamste Sohn, den sie sich wünschen konnte; einkaufen, Müll
raustragen, stets war er hilfsbereit. "Still war er", erzählt sein
Schulkamerad Falko Kuhnt, 19, "und auf Abstand bedacht - aber kein Stück
aggressiv." "Er war unsicher", sagt sein einstiger Stammkurslehrer Rainer
Heise. "Höflich und freundlich war er", sagt seine einstige Lehrerin Martina
Holland, "als ich ihm mal sagte, dass ich mir Sorgen mache um ihn, hat er
verlegen gelächelt." Je mehr man über Robert Steinhäuser erfährt, desto mehr
kann man den Eindruck gewinnen, man hätte es mit zwei, drei verschiedenen
Menschen zu tun. Mit einer multiplen Persönlichkeit. Oder einer
schizophrenen? Die meisten kannten den Schul-Robert. Einen Jungen, der
tagein, tagaus in schwarzen Jeans und schwarzer Lederjacke über schwarzen
Sweatshirts auftrat, einer Montur, die nichts verrät, einer Rüstung. Tadel,
schlechte Noten quittierte der Schul-Robert mit einem Achselzucken. Seht
ihr, wie kalt mich das lässt? "Bullshit", sagt ein Mitschüler, "war so ein
Lieblingswort von ihm", und Robert sprach es aus, als würde er die zwei
Silben ausspucken. Gute Zensuren, hübsche Mädchen, Erfolge im Sport - all
das, was das Wertesystem seiner Schulkameraden ausmachte, für Robert
Steinhäuser war es Bullshit. Er war dieser Schüler, der immer allein sitzt.
Der im Unterricht einschläft, die Arme auf dem Pult verschränkt, den Kopf
auf die Arme gestützt, leise schnarchend. Er war der Junge, der sich nicht
verliebt, auch mit 17, mit 18 nicht, in diesem Alter, in dem alle Sinne auf
Empfang stehen. Alles Bullshit? "Ich sage es ungern", sagt Rainer Heise,
"aber meiner Einschätzung nach war Robert Steinhäuser kein besonders
intelligenter Junge - er lag deutlich unterm Schnitt." Es ist bezeichnend,
dass Robert Steinhäuser den eifrigsten Einsatz seiner ansonsten ruhmlosen
Schulkarriere zeigte, als er gemeinsam mit vier anderen Schülern ein paar
Szenen aus Sophokles' "Antigone" einstudieren sollte. Die Jungs hatten die
Idee, die Tragödie ins Mafia-Milieu zu verlegen - und hier war Robert
Steinhäuser, der Bühnenbild und Kostüme entwarf, sehr eifrig dabei. "Es war
erstaunlich", erinnert sich sein Mitschüler Falko Kuhnt, damals betraut mit
der Rolle des Kreon, "wie viel Robert dazu einfiel, was wir anziehen
sollten, während wir den Text aufsagten." Niko K., der Klassenclown, war
sein bester Kumpel. Mit ihm zelebrierte er seine düsteren Abende vor dem
Computer: Ego- Shootings im Cyberspace, dazu die dumpfen Beats des Death-
Metals. Nur Niko präsentierte er stolz seine Waffen und die Munition im
Kinderzimmer. Niko war auch bei ihm, am letzten Abend, den Robert
Steinhäuser erleben sollte, dem Donner stag vor Erfurts schwarzem Freitag.
Niko und Robert gehörten zu einer seltsamen Clique. Peter E. etwa zählte
noch dazu, ein belesener Typ, eine Art Redner gegen die Lehrerschaft; und
Robert H., ein scheinbar braver Bub, der seine wilde Seite in einer
Death-Metal-Band auslebt; und der Lehrersohn Robert S., immer wieder lustig
frisiert. Einige der Jungs guckten zusammen Filme wie Mike Mendez'
"Killers", in dem gleich zu Beginn zwei Maskierte mit Pumpguns in ein Haus
eindringen und alles abknallen, was sich bewegt. Ein Menschenleben, so
behauptet der Film, ist nicht mehr wert als die Patrone, mit der man es
beendet. Manchmal traf sich Roberts Gang auch auf dem Domplatz, auf dem
vergangenen Freitag hunderttausend Menschen trauerten, und sie guckten den
Mädchen nach, oder sie zogen durch Kneipen. Ihr Bermuda-Dreieck bestand aus
dem Drogeriemarkt Müller, wo sie nach billigen Spielen suchten, dem
Plattenladen Saturn und der Videothek Video Buster. Und diese Clique war
Robert Steinhäusers Raum der Ruhe. Hier durfte er sein, wie er war,
verschlossen und einsilbig, denn hier war das cool. Es gab keine Nachfragen,
keine Diskussionen. "Es ist erschreckend, wir wussten von Robert nahezu
nichts", sagt Peter E. Einige aus der Clique organisierten Netzwerkpartys,
so genannte LANs, Local Area Networks. Der Vater erlaubte Robert, dass die
Jungs für ein Wochenende in einer leer stehenden Wohnung in der Ottostraße
40 die Computer zusammenschlossen und online spielten. "Es ging Tag und
Nacht und wieder nur ums Schießen, Leute, die hinter Ecken hervorkommen und
abgeschossen werden. Da hab ich sie rausgeschmissen", sagt Günter
Steinhäuser. Über die Zukunft sprachen sie selten. "Was mit Computern"
wollte Robert machen, aber mehr sagte er nicht. Der Vater suchte
Ausbildungswege für Computerberufe zusammen, aber Robert winkte ab. Die
Mutter bekniete den Sohn, sich doch wenigstens eine Zivildienststelle zu
suchen; zur Bundeswehr wollte er ja nicht, seit ihm ein Kumpel erzählt
hatte, wie anstrengend die nächtlichen Märsche seien. Die Hoffnung, dass er
die Schule schaffen würde, hatten die Eltern da längst aufgegeben. "Machste
eben keinen Abschluss, geht ja auch", sagte die Mutter. "Ich hab ja das
Abitur auch nicht", sagt der Vater. Übersteigerte Erwartungen haben diese
Eltern nicht gehabt, aber sie halfen auch nicht. Es scheint, als hätten sie
Robert in einen Alltag mit Kaffee und Kuchen gesteckt und gehofft, dass
alles irgendwie gut gehen würde. Wie bei Millionen anderen Kindern auch.
"Ich dachte wirklich, er hat keine Sorgen", sagt der Vater. Seine Frau sieht
ihn zweifelnd an. "Er hat uns nur nicht vertraut", sagt sie. DAS TODESURTEIL
Es solle ja keine Entschuldigung sein, sagt der Vater, aber es sei dennoch
wahr: Beim Elternsprechtag in der 11. Klasse habe er gewartet, bis alle
gegangen waren, und dann habe er zum Klassenlehrer gesagt: "Wenn es etwas
gibt, rufen Sie mich bitte an. Auch wenn es schlechte Nachrichten sind. Ich
kann das aushalten." Es gab keinen Anruf. Bis zum 26. April nicht. Und
Robert hatte sehr schlechte Noten. Er sei faul, sagten die Lehrer, mache die
Aufgaben nicht; er könne zwar erzählen, aber nicht auf Fragen antworten, und
deshalb erzähle er irgendetwas, nur nicht das Richtige. Einmal sollte er ein
Referat über Gutenberg halten; er schaffte zwei Sätze, sagte "Bullshit" und
setzte sich wieder. Doch statt Hilfe gab es Demütigungen. Ein Lehrer sagte:
"Man muss doch an Wunder glauben, wenn man meint, dass der das Abitur
schafft." Die elfte Klasse machte Robert noch mal, "weil er das Gefühl
hatte, er packt es überhaupt nicht", wie die Mutter sagt. Während der elften
Klasse versuchte er, an einer Gesamtschule die Prüfung zum
Realschulabschluss zu machen, aber sehr schnell gab er auf. Die Eltern
hofften. Worauf? Robert versteckte seine Antriebslosigkeit hinter einer
barschen Fassade, und das neue Schuljahr lief nur wenig besser als das alte.
Dann schwänzte er. Und um das Schwänzen zu verstecken, fälschte er Atteste.
"Auf die Schliche" sei man Robert gekommen, als sich beim feuchten
Überwischen der Arzt-Atteste, der Stempel und Unterschriften keine
Schmierspuren gezeigt hätten, erzählt Martina Holland, seine Lehrerin aus
dem Deutsch- Leistungskurs. Also riefen Lehrer den vermeintlichen Arzt an,
und der war sich sicher, dass ein Patient namens Robert Steinhäuser "nie bei
ihm gewesen war". Dann ging alles ziemlich schnell, und möglicherweise ging
es ein bisschen zu schnell. Joachim Koch, Roberts letzter Stammkursleiter,
erzählt, dass Robert im September 2001 zu einem Gespräch mit einem
Fachlehrer, der Schulleitung und dem Kurssprecher gebeten worden sei. In
seiner Gegenwart habe man beschlossen, ihn an eine andere Schule zu
verweisen. Im Schulgesetz des Freistaats Thüringen steht, dass für den Fall,
dass "Erziehungs- maßnahmen" keinen Erfolg erzielten, "eine schriftliche
Mitteilung" an die Eltern gehen solle. Und "bei schweren oder häufigen
Pflichtverletzungen muss ein Hinweis erfolgen". Die Zuweisung an eine andere
Schule beschließe das Schulamt; "den Antrag stellt der Schulleiter auf
Beschluss der Lehrerkonferenz". Der Schulpsychologische Dienst des
Schulamtes wurde im Fall des Robert S. nicht eingeschaltet. Eine
Schulkonferenz hat es für Robert S. nie gegeben. Die sei, so Lehrer Koch,
"rechtlich auch nicht nötig" gewesen, "weil es sich ja um eine
Urkundenfälschung gehandelt hat". War die im strafrechtlichen Sinn wirklich
bewiesen? Steinhäuser, sagt Vize-Schulamtschef Wolfram Abbe, sei ja gar
nicht von der Schule geworfen worden, man habe ihm lediglich die Möglichkeit
eröffnet, an einem anderen Gymnasium das Abitur zu machen; ein Verbleib am
Gutenberg- Gymnasium sei wegen des "gestörten Vertrauensverhältnisses" nicht
mehr möglich gewesen. Das klingt ganz, als versuche da jemand ungeschickt
ein Vertuschungsmanöver . Selbst Thüringens Kultusminister Krapp schreibt am
vergangenen Donnerstag, gänzlich unverblümt, an Roberts Eltern, ihr Sohn sei
"von der Schule verwiesen worden". Kollegen wie dem Physiklehrer Pockel
wurde "Ende November oder Anfang Dezember" eher lapidar mitgeteilt, dass
Robert Steinhäuser nicht mehr Schüler des Erfurter Gutenberg- Gymnasiums
sei. Es war ein hektischer Rauswurf ohne Netz und ohne Boden, und für Robert
war es so etwas wie ein Todesurteil. Es war die endgültige Niederlage. Und
der Anstoß zur Tat. LEBEN MIT DER LÜGE Am 2. Juli 1996 wurde Jean-Claude
Romand zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Der Mann aus dem französischen
Prévessin hatte seiner Familie und seinen Freunden 18 Jahre lang
vorgespielt, ein erfolgreicher Arzt zu sein; in Wahrheit verbrachte er 18
Jahre lang seine Tage auf Parkplätzen und mit Spaziergängen. Kumpels und
Verwandte gaben ihm, dem angeblich so Welterfahrenen, 2,5 Millionen Francs.
Und dann, als der Schuldenstand zu hoch und das Gestrüpp aus Lügen zu dicht
war, als er kurz davor stand aufzufliegen, da tötete Romand seine Frau,
seine zwei Kinder und seine Eltern. Der Teufel sei schuld gewesen, sagte er.
Es geht bei Menschen wie Romand nicht darum, wie ausweglos ihre Lage
objektiv ist. Ein Gespräch, ein Geständnis, und sie kämen da wieder heraus.
Es geht darum, wie sie ihre Lage empfinden. Ihre Blamage. Es geht darum,
dass sie Lüge vor Lüge stellen, um die vorherige Lüge zu verbergen; darum,
dass sie irgendwann glauben, wenn sie jetzt noch alles zugeben würden, würde
die ganze Welt über sie lachen. Robert Steinhäuser wurden Ende 2001 zwei
Gymnasien genannt, auf denen er doch noch ins Leben hätte finden können.
Beim ersten erkundigte er sich, aber dort bieten sie nur Kurse an, die er
nicht belegen wollte; beim zweiten meldete er sich nie. Hätte er mit Lehrer
Koch gesprochen, hätte der ihn auf die Gleise in Richtung Realschulabschluss
setzen können; hätte er seinen Eltern gesagt, was los war, hätten die ihm
eine Lehr- stelle besorgt. Aber er log. Es begann damit, dass er am ersten
Tag nach dem Rauswurf seinen Rucksack nahm und sagte, er gehe jetzt in die
Schule. Ins Gutenberg-Gymnasium natürlich. Es ging damit weiter, dass er
seinen Freunden vom G utenberg- Gymnasium sagte, er habe die Schule
gewechselt. Wo aber trieb er sich herum in all den Monaten? Morgen für
Morgen nahm er seinen Rucksack - und dann? Es gibt Zeugen dafür, dass er
seit Februar ins Café Marathon zog, dorthin, wo keiner einen wie ihn
vermuten würde. Pünktlich um halb zehn, sobald geöffnet war, sei er hier
oben erschienen, auf der zweiten Ebene des Einkaufszentrums Breuninger,
immer allein. Er habe sich immer auf denselben Platz am zweitletzten Tisch
gesetzt, wo man nicht gesehen wird und den besten Blick hat auf die Erfurter
Altstadt. Die Menschen in der Fußgängerzone sind von hier klein wie Puppen.
Es ist wie auf einer Kommandobrücke. Die runde Glasfront zieht sich bis auf
den Boden. Morgens kommen nur wenige Gäste. Ein paar Rentner sitzen vor
ihren Kaffeetassen. Teller klappern, die Kasse schnurrt, und über dem Tresen
verströmen Monitore den Singsang eines Nachrichtensenders. Wer zu viel Zeit
hat, kann sie hier gut vergessen. Robert Steinhäuser trank Milchkaffee oder
Cappuccino, manchmal auch Eiskaffee. Die Kellnerinnen des Marathon erinnern
sich daran, dass der Junge immer las oder irgendetwas schrieb. Sie wissen
nicht mehr, ob es Bücher waren, die er dabei hatte, oder Zeitungen. Gegen
Mittag sei er aufgestanden, habe gezahlt und sei gegangen, das letzte Mal am
Mittwoch, zwei Tage vor seinem Rachefeldzug. Und daheim verstrickte er sich
in immer wildere Lügen. Den Eltern legte er im Dezember 2001 ein
Zwischenzeugnis vor, zwei Monate ging er da schon nicht mehr auf die Schule.
"Es war für uns eine Freude. Es war für seine Verhältnisse gut", sagt die
Mutter. "Gefälscht", sagt der Vater. Sie waren erleichtert. Robert ließ sich
jeden Morgen von seinen Eltern wecken, um Viertel vor acht. Heute kommt es
denen natürlich merkwürdig vor, dass er so oft sagte, er müsse erst zur
zweiten Stunde erscheinen. Er trank Kaffee, steckte das Schulbrot ein und
ging. Ins Café. "Für mich war mein Sohn am 26. April in der Abiturprüfung",
sagt der Vater. Und dann war es zu Ende. Der 26. April war der Tag der
letzten Klausur, und bald wäre er aufgeflogen. Durch die Lokalzeitung, die
Jahr für Jahr die Abiturienten meldet. Oder durch Freunde, die vom Abi
erzählt hätten. Es lässt sich nicht sagen, wie es herausgekommen wäre, aber
es wäre herausgekommen, irgendwie. DER AUSWEG Jürgen Gautzsch, 52, Mitglied
des Schützenvereins "Domblick e. V.", tat Dienst an der Rekrutierungsfront.
Der Freizeitpädagoge, der damals als ABM-Kraft beim Erfurter
Schulverwaltungsamt angestellt war, sollte Kinder und Jugendliche für den
Schießsport begeistern und sie, wie er sagt, "zu einer sinnvollen
Freizeitbeschäftigung im Verein anschubsen". Deshalb führte Gautzsch seine
Informationsveranstaltungen an Erfurter Schulen durch, mehrmals auch am
Gutenberg-Gymnasium. "Das lief so ab, dass wir nach dem Sportunterricht
Broschüren verteilt oder die Schüler zum Schnupperschießen eingeladen
haben", sagt Gautzsch, "aber nur mit Luftgewehren, unter fachkundiger
Betreuung." "Ein- oder zweimal" nur will Gautzsch Robert Steinhäuser gesehen
haben; aber der Junge, der am Computer längst nahezu perfekt war, fühlte
sich inspiriert. Bereit fürs echte Schießen. Ehrenschütze und Ehrenmitglied
im Schützenverein Domblick ist seit September 2000 Thüringens Innenminister
Christian Köckert (CDU). Bis vor einem halben Jahr trainierte der Verein im
Schießkeller vom "Schützenhaus-Erfurt-Kalkreiße", einem rot-weiß
gestrichenen Flachbau am Rande der Stadt, wo die Güterzüge stehen. Vier
Meter unter dem Parkplatz liegen die beiden 25-Meter-Schießbahnen, mit
automatischer Zuganlage. Ein Schuss 9-mm-Munition kostet hier 20 Cent. Man
kann auch Kaliber .357-Magnum kaufen; aber das ist teurer, 30 Cent. Der
Vereinsvorsitzende Martin Eilers, 43, erinnert sich gern an Robert
Steinhäuser. Der spätere Killer von Erfurt sei ein "ordentlicher Junge"
gewesen. Am 17. Oktober 2000, es war eine Zeit der besonders großen Sorgen
in der Schule, stellte Steinhäuser den Aufna hmeantrag, den auch seine
Eltern unterschrieben. "Ich habe was gegen die Schützenvereine. Das ist so
Burschenschaftsmentalität, so mittelalterlich. Aber ich hätte es ja nur um
drei Monate aufhalten können, dann wäre er volljährig gewesen", sagt der
Vater. Der Junge sei interessiert gewesen, sagt Eilers, "präzise mit der
Waffe umzugehen, gut zu treffen, das hat er hier gelernt". Seine ersten
Stunden am Schießstand verbrachte er mit einem Profi. Jürgen Birnbaum, 48,
ist Sportwart im Verein und im Hauptberuf Oberkommissar im Führungsstab der
Erfurter Bereitschaftspolizei. Als Schießtrainer schult er die Beamten im
zielsicheren Umgang mit der Waffe, und er betreut auch die Auswahlmannschaft
der thüringischen Polizei. Dass ausgerechnet dieser Mann den Massenmörder
ausgebildet hat, ist eine der besonders absurden Wendungen dieser
Geschichte. Ein durchschnittlicher Schütze sei dieser Robert Steinhäuser
gewesen, sagt Birnbaum, "das war kein Waffennarr". Eine eigene Waffe wollte
Steinhäuser nach Angaben von Eilers und Birnbaum erstmals im Frühjahr 2001
besitzen, doch weil eine Waffenbesitzkarte nur ausgestellt wird, wenn der
Schütze regelmäßiges Schießtraining nachweisen kann, scheiterte auch dieser
Versuch im Ansatz. "Ich habe ihm erklärt, dass er in seinem Schützenbuch zu
wenige Stempel für Trainingsschießen hat", sagt Birnbaum. Fortan wurde
Robert fleißiger. Er schoss regelmäßig, bis ihm das Erfurter Ordnungsamt
nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft am 16. Oktober 2001 die lang
ersehnte Waffenbesitzkarte ausstellte. Die Karte berechtigt zum Kauf einer
9-mm-Pistole und einer Pumpgun. Martin Eilers hat Steinhäuser in beiden
Fällen den Antrag zum Eintrag einer Waffe selbst unterzeichnet. Der
Jugendliche habe mit der Flinte auf Tontauben schießen wollen. Die
Begründung für den Kauf eigener Waffen war simpel: Steinhäuser sei die auf
den Schießständen angebotene Munition zu teuer gewesen, und deshalb wollte
er diese künftig selbst kaufen. Bevor Eilers dem späteren Killer das so
genannte Bedürfnis zum Kauf einer Waffe mit Stempel und Unterschrift
quittierte, habe er ein langes Gespräch mit dem Schützen geführt, sagt er.
Aber er sagt auch, dass er "psychologischer Laie" sei und "seelische
Zustände nicht beurteilen" könne. Sehr flink, noch im Oktober 2001, erwarb
der Schüler die spätere Tatwaffe, die 9-mm-Glock. Entgegen den gesetzlichen
Bestimmungen ist die Pistole nicht in der Waffenbesitzkarte mit Hersteller
und Fabrikationsnummer eingetragen. Innerhalb einer 14-Tage-Frist hätte dies
erfolgen müssen; das war eine Ordnungswidrigkeit, die Steinhäuser ein
Bußgeld eingebracht hätte, wenn sie der Erfurter Ordnungsbehörde aufgefallen
wäre. Die Pumpgun hingegen wurde am 30. Oktober ordnungsgemäß vermerkt. Eine
Glock-Pistole kostet in Erfurt in Läden wie dem "Frankonia Jagd" zwischen
717 und 948 Euro. Der Waffenhändler vermerkt den Verkauf in der
Waffenbesitzkarte. Und mit der Karte kann dann Munition in jeder Menge
bestellt werden, auch per Katalog. Den Domblick-Schützen wurde das Training
im Schützenhaus- Erfurt-Kalkreiße vor sechs Monaten zu teuer, und sie
verlegten das Handfeuerwaffentraining unter anderem nach Elxleben, die B4
ein paar Kilometer hinauf Richtung Norden. Robert aber ging weiter ins
Schützenhaus. Sein ehemaliger Schießwart Hans Meitz zeigte ihm, wie man den
Abzug nur mit der Fingerkuppe bedient und nicht mit dem Gelenk, weil das die
Waffe zur Seite ziehen kann. "Er machte gute Fortschritte. Zum Schluss hat
er ziemlich gut geschossen, auf 25 Metern dicht am Schwarzen", sagt er.
Steinhäuser hatte die Registriernummer 128. Er kam erstmals im Juli 2001,
zum letzten Mal am 17. Dezember. Der Computer des Schießclubs verzeichnet
die Registriernummer 128 für die letzten vier Monate nicht mehr. Zu Hause
erzählte Robert wenig vom Verein. Aber er erzählte, dass die Waffen dort
aufbewahrt würden. Dass Robert selbst zwei Waffen besaß, wus sten seine
Eltern, wie sie sagen, nicht. "Wer eine Waffe kauft, benutzt sie auch",
meint sein Vater. Sie wussten nichts, sie bemerkten nichts. Und der große
Bruder, sein großes Vorbild? Peter Steinhäuser, der Sonnenschein der
Familie, groß, dunkle Haare, der exzellente Handballtorwart? Der bemerkte
nichts, weil er nicht mehr zu Hause wohnte. Robert muss sich neben Peter
gefühlt haben wie das hässliche Entlein, picklig, käsig, schüchtern und
klein, immer zweite Wahl. "Seine Videospiele", sagt sein Bruder, "habe ich
nicht als so abwegig empfunden. Das machen so viele." Es gab diese Momente,
wo die Eltern ganz kurz Verdacht schöpften. Es war drei Wochen vor dem 26.
April. Da sah die Mutter, dass der Schulrucksack leer war. "Gehst du etwa
nicht mehr in die Schule?", fragte sie. "Ruf doch an, natürlich gehe ich da
noch hin", sagte er. Der Anruf unterblieb. Und dann, am 11. April, einen Tag
bevor sie mit ihrem Mann in Urlaub fuhr, suchte Christel Steinhäuser eine
Reisetasche und fand sie in Roberts Zimmer; voll und schwer war sie, und ein
kleines Vorhängeschloss baumelte am Reißverschluss. "Willst du sie haben?",
fragte er. "Lass nur, ich nehme eine andere", sagte sie. Hätte sie doch nur
nachgefragt. Das Schloss geöffnet. Wäre sie doch bloß schärfer und
bestimmter gewesen. "Der Zufall hat uns nicht geholfen, nicht ein einziges
Mal", sagt der Vater. DER GEHASSTE HELD Drei Morddrohungen lagen schon im
Briefkasten, als der anonyme Anrufer sagte: "Dich knallen wir auch noch ab,
du Schwein." In der Straßenbahn wurde er angespuckt, weil er "sich im
Fernsehen so ekelhaft wichtig machen" würde. Und die Schuldirektorin
Christiane Alt sagt, Rainer Heise "hätte auch ein leiserer Held sein
können". Selten wurde ein Mensch so schnell durch den Fleischwolf der
Öffentlichkeit gedreht. Vom Opfer zum Helden zum Wichtigtuer - so ergeht es
Rainer Heise, dem Mann, den Bundesinnenminister Otto Schily für das
Bundesverdienstkreuz vorschlug, viel zu früh, nämlich als Erfurt noch im
Koma lag und alles verkraftete, aber keinen Kriegsgewinnler. Ist Heise ein
närrischer Heiliger? Oder ein Aufschneider? Rainer Heise, 60 Jahre alt,
runder Kopf auf breiten Schultern, blaue Augen, kurzer weißer Bart. Er hat
kräftige Hände, wandert gern, schwimmt viel, isst gern vegetarisch. "Er ist
impulsiv und hat eine intensive Art zu reden", sagt Marco Kneise, 19, einer
von Heises Schülern, "aber er ist auch der Typ Lehrer, der einen nicht
hängen lässt." Und seine Nachbarin, die ihn seit 32 Jahren kennt, sagt, er
sei ein "grundanständiger Mensch". Aber der Held von Erfurt ist zurzeit der
meistgehasste Mann der Stadt. "Warum sich alles auf mich stürzt, warum jetzt
diese Polarisierung sich an meiner Person festmacht", sagt er, "das
begreife, wer will ..." Er zuckt die Achseln. Erst der Terror des Attentats,
dann das Verhör durch die Polizei, sechs Stunden lang. Dann die
Vereinnahmung durch den Innenminister. Dann der Terror der Medien, die eine
Schneise durch sein Leben ziehen. Pausenlos klingelt das Telefon in seiner
Dachwohnung, wo er nach seiner Scheidung allein lebt; aber Heise nimmt schon
lange nicht mehr ab. "Ich hatte keine Erfahrung mit Medien", sagt er, "ich
habe nie behauptet, dass ich ein Held bin." Der Tag, an dem Heise zum
gehassten Helden wurde, begann ganz normal. Erste Stunde, 7.30 Uhr, Heise
unterrichtete seinen Leistungskurs Geschichte. Heise schaute an diesem Tag
ständig auf die Armbanduhr, denn die Schulklingel war wegen der
Abiturprüfungen abgestellt. Um 9.25 Uhr ging er in den Raum 108 im ersten
Stock zum Kunstunterricht einer sechsten Klasse. Es war kurz nach elf, als
Heise einen Knall hörte; er hatte das Unterrichtsthema ins Klassenbuch
eingetragen, setzte gerade sein schwungvolles Kürzel daneben, "hse", und
zuckte zusammen. Blick auf die Uhr: acht Minuten nach elf. Eines der Kinder
rief Heise zu: "Oben schießt einer!" Schon stolperten die ersten, schrien,
weinten. "In dem Moment hatte ich nur einen Gedanken - die Kinder müssen
raus aus dem Gebäude!" Heise vers uchte die Flucht zu organisieren. Er rief
Anweisungen, stemmte die Pendeltür auf, klemmte sie fest, griff sich die
kleineren Kinder, raus hier, erst mal alle raus. Und noch hatte er keine
Ahnung, was da geschehen war. Die Kinder standen dann draußen auf dem Hof,
an der Rückfront des Gebäudes. Gegenüber liegt die Turnhalle, rechts der
Lehrerparkplatz. Heise sah seine Kollegin Martina Holland. "Lauft alle zu
Frau Holland", rief Heise den Schülern zu, er schob und schleuste die
Zögernden in die richtige Richtung. Da trat eine schwarze Gestalt hinter
Heise aus der Tür. Der Maskierte ging um Heise herum, "er machte einen
regelrechten Bogen um mich, keine Ahnung, warum". Der Maskierte hatte eine
Waffe, gab einen Schuss ab in Richtung Rondell, wo die Kinder schon über den
Zaun kletterten. Dann hörte Heise ein Klicken. Dann sagte der Maskierte:
"Die krieg ich auch noch." Und griff in die Tasche. "Ich sah", sagt Heise,
"wie der Maskierte etwas Messingfarbenes aus seiner Tasche zog und an seiner
Waffe hantierte und zum Parkplatz ging." Die Stimme kannte er, aber woher?
Und dann machte Heise kehrt, rannte die Treppen hoch in den ersten Stock,
und egal was später passierte: Neun von zehn Menschen wären vermutlich
draußen geblieben; Heise handelte wie ein Feuerwehrmann, der seinen
Fluchtinstinkt unterdrückt und in ein brennendes Haus stürmt. "Ich habe
agiert wie ferngelenkt", sagt er. Es war totenstill dort oben, buchstäblich.
Heise ging den Gang entlang bis zum Materialraum, wohin sich die Lehrer in
ihren kurzen Pausen zurückziehen. Heise drückte die Klinke, verschlossen, er
schloss auf, er zog die Tür hinter sich zu. Dann hörte er Schritte. Ein
Schlurfen. "Als ob ein Kind seinen Ranzen hinter sich herschleift." Er
öffnete die Tür einen Spalt weit, spähte hinaus. Sah den schwarz gekleideten
Maskierten, wie der den Gang entlang kam, mit schweren, müden Schritten.
Sah, dass der Maskierte ihn sah. GAME OVER Nun hätte Heise die Tür zuwerfen
können, abschließen, sich verrammeln. Er tat es nicht. "Es schien mir das
Falsche", sagt er, "ich kann's nicht erklären." Stattdessen trat er hinaus
auf den Gang und wartete, bis der Maskierte vor ihm stand. Dann zerrte sich
der Fremde die Maske vom Kopf, und Heise erkannte das Gesicht seines
früheren Schülers Robert Steinhäuser. Schweißüberströmt und bleich. "Robert,
du?", sagte Heise. Steinhäuser verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen.
Noch hielt er die Pistole in der Hand. Aber Heise fragte: "Hast du
geschossen, was denkst du dir eigentlich dabei?" Robert Steinhäuser starrte
seinen ehemaligen Lehrer an, Heise sagte: "Wenn du auf mich schießen willst,
dann tu's, aber du musst mir in die Augen sehen dabei." Und er hatte Glück.
Denn Heise war plötzlich ein Gesicht und keine Silhouette aus einem
Computerspiel. Und außerdem wiederholte sich an diesem 26. April 2002 vor
dem Materialraum eine Szene, die die beiden zwei Jahre zuvor auf einer
Klassenfahrt erlebt hatten. Als ob das damals eine Übung gewesen wäre.
Damals, Heise war noch Roberts Stammkurslehrer, hatte der Schüler ein paar
Whisky gekippt, sich eine Havanna angesteckt und einen Stetson übergestülpt.
Derart maskiert und mit Macht-Requisiten ausstaffiert, war Robert zu dem
Lehrer Hans Lippe marschiert, den er nicht leiden konnte, und hatte, mit
ausgestrecktem Zeigefinger, Schüsse simuliert. Damals schon war Heise
dazwischengegangen, und er hatte dem Schüler Zigarre und Whiskyflasche
weggenommen. Und Robert Steinhäuser hatte das seinen ersten Verweis
eingebracht. Und nun war es ein wenig wie damals. Und in dem Moment, da
Heise, sogar ein wenig barsch, den Schüler zusammenstauchte, war das
Schüler-Lehrer-Verhältnis von früher wieder hergestellt. "Nee, Herr Heise",
sagte der Attentäter, "für heute ist genug." "Robert, darüber werden wir
reden müssen", erwiderte Heise streng - Steinhäuser stopfte brav die Maske
in seine Hosentasche und legte die Pistole auf das hellgraue Holzregal, das
vor dem Materialraum steht. Heise schob ihn in den Materialraum und sagte:
"Deine Waffe nimmst du mit." Robert griff sie sich, Heise schubste den
Attentäter in den Raum, schloss die Tür und verriegelte sie. Es war vorbei.
War es so? "Es könnte so gewesen sein", sagen Polizisten. DIE EINSAMKEIT Am
Freitag vergangener Woche weint die Stadt Erfurt. 100 000 Menschen kommen
zur Trauerfeier; "wir leben miteinander und kennen uns häufig nicht", sagt
Bundespräsident Johannes Rau. Eigentlich wollten sie hingehen, um ihr
Entsetzen zu zeigen, ihre Fassungslosigkeit darüber, was ihr Sohn
angerichtet hat, ihr Mitgefühl. Am Donnerstagmittag war ein Vertreter der
Staatskanzlei im Haus, um den Besuch zu besprechen. Aber am Donnerstagabend
wurden sie wieder ausgeladen. "Die Sicherheitslage lässt es nicht zu", sagte
der Mann am Telefon. Günter Steinhäuser kauerte weinend auf dem Sofa. "Die
wollen uns nicht, Christel. Die denken, da kommt ein Mob und lyncht uns." Er
vergrub das Gesicht in den Händen, die unkontrolliert zitterten. Dann
schüttelte der Vater den Kopf und sagte: "Die Sicherheitslage lässt es nicht
zu ... Jetzt macht gar nichts mehr Sinn." Und dann gehen sie doch hin. Sie
schauen der Trauerfeier für die Opfer des 26. April von oben, hinter
Fensterglas zu; ein ZDF-Kamerateam beobachtet sie. Es ist ihre Stadt, ihr
Sohn ist der 17. Tote. Aber sie gehören nicht mehr dazu.
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KLAUS BRINKBÄUMER,
DOMINIK CZIESCHE, RALF HOPPE, FELIX KURZ, CORDULA MEYER, IRINA REPKE, SVEN
RÖBEL, ALEXANDER SMOLTCZYK, ANDREAS WASSERMANN, STEFFEN WINTER